“Kein Tier wird für die Lederherstellung gehalten”
Ein Interview mit Nina Conrad, Mitgründerin von Fibershed DACH, zum Thema regionales Leder.
von Kathrin, Juni 2023
Leder ist ein Material, das die Gemüter erhitzt. Die Gründe dafür sind vielschichtig, und nicht immer ist es einfach, sachliche Informationen zur Lederherstellung zu finden, wenn man sich eine eigene Meinung bilden möchte.
Ich habe eine Expertin gefragt, die ich kenne: Nina Conrad, die Mitgründerin von Fibershed DACH.
Nina ist eigentlich Politik- und Islamwissenschaftlerin. Als Wissenschaftlerin untersuchte sie Konflikte und deren Hintergründe und Zusammenhänge, sie hielt öffentliche Vorträge zu komplexen Fragestellungen ihres Forschungsgebietes.
Die Fragen “Warum ist das so? Was genau ist das Problem? Was ist die Ursache dafür, und wie hängt alles zusammen? ” - das sind die Kernfragen, mit denen sie sich immer wieder auseinandersetzt. Und diese Fragen standen auch am Anfang ihrer Tätigkeit in der Lederindustrie, in der sie heute als Produktmanagerin und Projektleiterin sowie als Expertin für die Produktion von rückverfolgbarem, lokalem Leder und Fellen arbeitet.
Nina, wie bist Du zum Leder gekommen? Was fasziniert Dich daran?
Ich habe mich immer gewundert, wieso man in jedem Supermarkt Fleisch bekommt, dessen Herkunft bis zum Bauernhof zurückverfolgt werden kann und für das man genau erfährt, unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde - aber wenn man Leder kaufen möchte, erfährt man meist nicht einmal, aus welchem Land es kommt, geschweige denn, unter welchen Bedingungen es hergestellt wurde. Dabei stammen beide Produkte von Tieren!
Daraufhin haben eine Schulfreundin und ich eine Art Forschungsprojekt gestartet, mit dem wir herausfinden wollten, wie die Wertschöpfungskette von Leder eigentlich aussieht. Wir sind dabei dem Weg eines Rindes, das zur Fleischproduktion bestimmt war, gefolgt, vom Transport aus dem Biobauernhof zum Schlachter und Fleischhersteller.
Wir arbeiteten mit regionalen Tiertransportunternehmen, Häutehändlern und Gerbereien und verschafften uns einen Überblick über mögliche Lieferketten und Produktionsbetriebe. Immer wieder mussten wir auf unserem Weg viel Überzeugungsarbeit leisten, vor allem bei Gerbereien. Denn üblicherweise wird bei Gerbereien vom Produkt her gedacht: Auftraggeber möchten z.B. eine bestimmte Tasche oder Handschuhe herstellen, und die Gerberei sucht dann aus ihrem Bestand geeignete Leder (unabhängig von seiner Herkunft) aus. Nach diesem Top-Down-Prinzip wird ja meist auch in der Textilherstellung gearbeitet - man geht vom Endprodukt aus und schaut, welche Materialien den Designanforderungen möglichst genau entsprechen.
Bei uns war es nun genau anders herum: Wir brachten der Gerberei unsere Häute und Felle und wollten sie rückverfolgbar verarbeiten lassen. Und je nachdem, was für eine Qualität das fertige Leder dann hätte, wollten wir entscheiden, was für Produkte daraus möglich und sinnvoll herzustellen sind (Bottom-up-Ansatz). Das war ein Novum und traf oft auf Widerstand.
Durch unser Forschungsprojekt haben wir gelernt, wie die Lederindustrie derzeit eigentlich funktioniert. Erst mit diesem Verständnis konnten wir weitergehen und Lösungsansätze finden, um eine gerechtere, ethischere, lokalere, nachhaltigere Lederproduktion zu ermöglichen.
Womit beschäftigst Du Dich täglich in Deiner Arbeit?
Mein Arbeitsalltag ist eigentlich kein “Alltag” sondern sehr komplex. Ich habe viele Tätigkeitsbereiche - für Fibershed DACH, als Projektleiterin und Beraterin bei Unternehmen, aber ich habe auch eigene Kunden, die meine Werte teilen und bei mir Leder bestellen. Und so arbeite ich zwar immer an den gleichen Tagen die Woche, aber jeder Tag und jede Woche ist anders, einfach weil das gesamte Thema so sehr komplex ist. Neben vielen Meetings und Besprechungen organisiere ich Lieferketten, spreche mit Gerbereien, Landwirt:innen und Manufakturen, lasse Leder herstellen und versende dieses, gestalte Produkte, betreue Webseiten und texte dafür, berate Unternehmen, halte Vorträge und so weiter.
Demnächst möchte ich wieder Rindsleder herstellen lassen, dafür muss ich mir aber noch genau überlegen, welche Artikel daraus entstehen sollen. Man kann z.B. aus den Fellen jüngerer Rinder nicht gut Gürtelleder herstellen, weil die Haut noch nicht dick genug ist. Wenn meine Kunden also Gürtelleder nachfragen, muss ich mit dem Häutesammler, mit dem ich zusammenarbeite, genau besprechen, welche Felle ich jetzt brauche und welche noch nicht.
Im Grunde bin ich auch immer noch dabei herausfinden, wer überhaupt noch richtig gutes Leder in der DACH-Region herstellen kann.
Welche Arbeitsschritte muss man gehen, um von einem Tier bis zum fertigen Leder zu kommen?
Die Herstellung von Leder ist ein Prozess mit ganz vielen verschiedenen Schritten, die Gerbung ist eine richtige Wissenschaft für sich. Wenn wir versuchen, die Lieferkette von unserem Leder ganz grob herunterzubrechen, sind es im Grunde drei Prozessschritte.
Zuerst muss die Haut konserviert werden, und zwar relativ zügig nach der Schlachtung. Die Haut wird dafür gesalzen und so haltbar gemacht, damit sie sich nicht zersetzt. Die wenigsten Schlachthäuser können das allerdings, meist werden die Häute mit anderen Schlachtabfällen zusammen von speziellen Entsorgungsunternehmen abgeholt. D.h. schon am Beginn dieser Lieferkette findet ein sehr wichtiger Schritt in der Lederherstellung statt, den aber gar nicht mehr alle Schlachthäuser durchführen können oder wollen.
Die konservierten Häute werden dann gelagert und anschließend zur Verarbeitung an die Gerberei geschickt. Dort wird die Haut erst gewaschen, um das Salz und den Dreck zu entfernen. Gleichzeitig muss die Haut auch wieder den ursprünglichen Wassergehalt erlangen. Anschliessend wird die Haut enthaart, entfleischt und gespalten. Bereits für diese Prozessschritte muss die Gerberei von mir schon wissen, welches Endprodukt ich erreichen möchte - für ein dünnes, weicheres Leder sind die Prozesse leicht anders als für dicke, harte Leder.
Diese ersten Prozesse bis zum Erhalt der sogenannten Blösse sind die wasser- und chemieintensivsten Schritte in der ganzen Gerbung. Auch hier kann man gute und weniger gute Chemie einsetzen. Im Volksmund spricht man aber immer von “der” Gerbung, bei der entweder mit rein pflanzlichen, synthetischen oder mineralischen Gerbstoffen gearbeitet wird. Es gehören aber wie gesagt viel mehr Prozesse dazu.
Die “eigentliche” Gerbung dauert dann unterschiedlich lang, je nach dem, mit welchen Extrakten gearbeitet wird. In meiner Partnergerberei dauert die Gerbung ca. 2-3 Monate, bei der Chrom-Gerbung reichen ein paar Tage. Die Herstellung von richtig gutem Schuhsohlen-Leder dauert sogar rund zwei Jahre!
Was ist “Regionales Leder”?
Mit der Website “Regionales Leder” möchten ich und meine Partnerin Alicia all das wieder transparent machen: woher das Tier kam, was es für ein Leben hatte, wo alles verarbeitet wurde, und auch wie lange eine gute Verarbeitung eben dauert.
Als ich mit der Lederproduktion startete, machte ich das unter dem Namen “Traceable Leather”, also rückverfolgbares Leder. Die Rückverfolgbarkeit alleine ist bei “Traceable Leather” aber nicht alles. Man kann durch Lasertechnik usw. heute z.B. auch Leder von Tieren zurückverfolgen, die kein gutes Leben hatten und in ihrem kurzen Leben viel leiden mussten. Auch Tierleid ist rückverfolgbar. Was bringt es mir also, wenn ich zwar weiss, woher das Tier kommt, aber damit auch weiss, dass es als Kalb nach 3 Lebenstagen von der Mutter weggenommen und auf einen Mastbetrieb gesteckt wurde, und dort mit viel Kraftfutter und Antibiotika gefüttert wurde, bis es mit 5 Monaten schlachtreif war?
Mir ist es in erster Linie wichtig, Leder herzustellen aus Fellen von Tieren, die ein gutes Leben hatten, ihr Leben lang Gras gefressen haben statt Kraftfutter, draussen auf der Weide statt drinnen im Stall waren.
Tiere, die nur Gras fressen, vollbringen etwas sehr Wertvolles: Sie verwandeln Sonnenlicht und Gras - ein Material, das der Mensch nicht essen kann - in Fleisch und Milch (und im Fall von Schafen auch Wolle). Das bedeutet: Die Ernährung dieser Tiere steht nicht in Konkurrenz zur Ernährung von Menschen, ganz anders als bei Tieren, die mit Kraftfutter wie Soja, Mais oder Getreide ernährt werden.
Leder ist also am Ende des Tages, genau wie z.B. Wolle, ein landwirtschaftliches Produkt.
Was beflügelt Dich in Deiner Arbeit, was ist für Dich das schönste?
Am schönsten sind für mich Begegnungen mit Menschen, die sich genau dieselben Fragen stellen, die ich mir auch stelle, und denen ich Leder anbieten kann, hinter dem sie wirklich stehen können. Einfluss nehmen zu können darauf, welches Material auf Messen ausgestellt wird, weil ich mich mit Menschen vernetzen konnte, die etwas bewegen wollen.
Ich liebe die Fotoshootings, in denen wir unsere Lieferketten porträtieren, zu den Landwirt:innen gehen und sehen, wie sehr sie ihre Tiere wertschätzen. Das sind immer ganz besonders schöne Momente, in denen ich jedes Mal denke: Wie schön, kann ich mit meiner Arbeit dazu beitragen, dieses Tier wertzuschätzen.
Neulich kam jemand zu mir und hat Leder für einen Dudelsack gekauft. Das macht man vermutlich auch nur ein Mal im Leben.
Welchen Mythos über Leder würdest Du gerne aus der Welt schaffen? Was sollte jede:r über Leder wissen?
Oft lese oder höre ich den Begriff “Leder-Rinder”, und es wird behauptet, dass Tiere ausschließlich für die Lederherstellung gehalten und geschlachtet werden. Wenn man diesen Gedanken aber mal wirklich bis ganz zu Ende denkt, wird man schnell feststellen, dass ein solcher Ansatz überhaupt nicht rentabel wäre. Wäre das Fleisch dann ein Abfallprodukt der Lederherstellung? Vielmehr ist es doch so, dass die Häute so lange anfallen, wie wir Rinder, Ziegen, Schafe etc. zur Fleisch- und Milchproduktion halten. Und solange Menschen Fleisch und Milch konsumieren, solange werden auch Häute dieser Tiere anfallen. Häute, die man auch sinnvoll nutzen kann, statt sie zu entsorgen.
Vielen Dank Nina für diese Einsichten!