Die Bedeutung von Handwerk für die Gesellschaft - Fibershed Talk mit Dr. Judith Nyfeler

von Kathrin, April 2024

In unserem online-Format “Fibershed Talks” haben wir regelmäßig inspirierende Menschen zu Gast, die in den unterschiedlichsten Bereichen spannende Themen bearbeiten. Sie berichten uns von ihrer Arbeit und inspirieren dadurch die Menschen in unserer Community.

Unser Gast am 16.4.2024 war Judith Nyfeler, Soziologin an der Universität St. Gallen. Wir sprachen mit Judith über die Rolle von Städten in Bezug auf die zunehmende Wertschätzung von Handwerk, Messen und Online-Plattformen als Arena des Austauschs und der Interaktion, und diskutierten mögliche Folgen der Verschränkung von Herstellung und Nutzung, „maker“ und „user“ sowie sichtbarer Spuren menschlicher Hand-Arbeit.

Wer ist Judith Nyfeler?

Judith Nyfeler ist Soziologin an der Universität St. Gallen, die in ihrem aktuellen Forschungsprojekt das Wiederaufleben und die Bedeutung von Handwerk für die gegenwärtige Gesellschaft untersucht. Dabei geht es auch um Themen wie alternative Produktions- und Konsumformen, um die Attraktivität von Innenstädten für und durch Handwerk sowie um das Potenzial und mögliche Transformationen, die durch handwerksbasiertes Schaffen ausgelöst werden (können). 

 

Bei der Betrachtung von Produktion als “handwerklich” versus “industriell” stellte Judith fest, dass selbst nach über 200 Jahren Industrialisierung Handwerk immer noch präsent ist und noch nicht vollständig von der Industrie verdrängt wurde. Warum ist das so?

Handwerklich hergestellte Objekte sind Luxusprodukte.

In Judiths Forschung geht es vor allem um etwas, das sie „neues Handwerk“ nennt und als zeitgenössische Aktualisierung älterer, etablierter Formen des handwerklichen Schaffens versteht. Es ist anders organisiert als traditionelles Handwerk, nämlich oft eher projektbasiert und als zweiter oder dritter Karriereweg, die Akteur:innen sind oft Quereinsteiger und haben keine klassische Ausbildung auf dem Gebiet, in dem sie arbeiten.

Photo Credit: Angelika Annen für MARAI

 

Das “Neue” Handwerk”

Im “neuen Handwerk” sind Pre- und Post-Production sehr viel wichtiger als im traditionellen Handwerk. Es beginnt bei der Transparenz der Rohstoffbeschaffung, geht über viel stärkere persönliche Beziehungen innerhalb der Lieferkette und bindet neue Wege wie z.B. das Crowd-Sourcing mit ein. Auch Vermarktung und Vertrieb sind im “neuen Handwerk” anders gestaltet als im traditionellen Handwerk. Vieles geschieht online (auf Social Media und über Webshops) und ist Community-basiert. Dennoch spielen (gerade für die persönlichen Beziehungen entlang der Lieferkette bzw. des Produkt-Kreislaufs) analoge Begegnungen eine entscheidende Rolle. Messen bieten dafür einen entscheidenden Rahmen, um neue Beziehungen zu ermöglichen und aufzubauen, die dann evtl online fortgeführt werden. Hier können Werte wie Ehrlichkeit, Verbindung, Authentizität vermittelt werden - Messen sind mehr als nur Marktplätze zum Einkauf. Sie können Begegnungsort und Inspirationsquelle sein.

“Neues Handwerk” nutzt vorhandene Infrastrukturen und denkt sie dabei manchmal komplett neu. Es wird nicht immer alles selbst gemacht, statt dessen kommen industrielle Halbfabrikate (Stoffe, Schrauben, Hölzer etc.) zum Einsatz, wenn sie den Ansprüchen an die Rohstoffbeschaffung (s.o.) genügen. Ressourcen wie Ateliers oder Arbeitsplätze werden geteilt und gemeinsam betrieben, um so auch den Community-Gedanken einzubinden

Was kann man heute vom Handwerk als Technologie lernen? Wir können lernen, wie und wo wir Objekte (in Funktion und Form) so gestalten, dass sie gebraucht und nicht nur konsumiert werden. Statt geplanter Obsoleszenz kann die Zirkularität von Produkten mitgedacht werden.

Über die Frage “Wie ändert sich die Wertvorstellung von Handwerk, wenn maker und user direkten, persönlichen und unmittelbaren Kontakt haben?” entspann sich eine angeregte Diskussion über das Thema Preisgestaltung auf Märkten. Welcher Wert wird einem Handwerk beigemessen, wenn Hobby-Maker ihre Waren zu einem symbolischen Preis verkaufen, ihre Kollegen zwei Stände weiter aber von ihren Einnahmen leben müssen und viel höhere Preise aufrufen (müssen)? Welche Rolle spielen Hürden für die Ausübung von Handwerk (Handwerksrollen, Kammern, Zulassungen, Meisterzwang etc.).

Der Zugang zu Wissen für das Handwerk ist heute ein anderer als früher. Hat man im traditionellen Handwerk das Wissen ausschließlich vom jeweiligen Ausbildungs-Meister bekommen, so bieten Open Source-Ansätze und online-Tutorials heute einen viel leichteren Einstieg in ein Handwerk. Wie verändert diese Tatsache das Handwerk?

Es war ein sehr spannender und informativer Abend. Vielen Dank für diesen Einblick in Deine Arbeit, Judith!

Literaturtipps von Judith

Adamson, G. (2013). The invention of craft. Bloomsbury Visual Arts.

Bell, E., Mangia, G., Taylor, S., & Toraldo, M. L. (2019). The organization of Craft Work. Identities, Meanings, and Materiality. Routledge.

Boltanski, L., & Esquerre, A. (2019). Bereicherung. Eine Kritik der Ware. Suhrkamp.

Crawford, M. B. (2009). Shop class as soulcraft. An inquiry in the value of work. Penguin Books.

Currid-Halkett, E. (2017). The Sum of Small Things. A Theory of the Aspirational Class. Princeton University Press.

Langlands, A. (2019). Cræft. An Inquiry into the Origins and True Meaning of Traditional Crafts. W. W. Norton & Company.

Luckman, S. (2015). Craft and Creative Economy. Palgrave Macmillan.

Ocejo, R. E. (2017). Masters of Craft. Old Jobs in the New Urban Economy. Princeton University Press.

Risatti, H. (2007). A Theory of Craft. Function and Aesthetic Expression. The University of North Carolina Press.

Sennett, R. (2010). Handwerk (2.). Berlin Taschenbuch Verlag.

Shales, E. (2017). The shape of craft. Reaktion Books.

Wherry, F. F. (2008). Global Markets and Local Crafts. Thailand and Costa Rica compared. The John Hopkins University Press.

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